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Test - Life is Strange: True Colors : Noch einmal mit Gefühl

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Wann immer die Rede von Life is Strange ist, dauert es nicht lange, bis das Wort „emotional“ fällt. Das sensible Coming-of-Age-Drama traf mit seiner sanften Erzählweise, den authentischen Problemen und besinnlichen Momenten ganz offensichtlich genau einen Nerv, der nicht weit vom Herzen entfernt liegt.

Nachdem sich Teil 2 von der Vorstellung der Fans entfernt, die Gefilde des gefühlvollen Melodrams verlassen und eher dem politischen Kommentar zugewandt hatte, wollen die Entwickler mit dem neuen Ableger nach eigenen Aussagen zurück zu den Wurzeln der Serie und rücken das Thema Emotionen nicht nur affektiv, sondern auch spielerisch in den Mittelpunkt.

Hey, hey, hey, hier kommt Alex

Heldin Alex Chen ist eine Empathin – also ein bisschen so ähnlich wie Counselor Troi damals in Star Trek: The Next Generation. Sie kann die Emotionen der Menschen als eine farbige Aura wahrnehmen und dadurch sogar ansatzweise deren Gedanken lesen. Was jedem anderen vermutlich wie eine höchst segensreiche Superkraft vorkommen würde, fühlt sich für Alex jedoch als Fluch an. Denn die Emotionen, die sie sieht, färben auf sie ab und ergreifen bei besonders starker Ausprägung unkontrollierbar von ihr Besitz. Ist jemand in ihrer Umgebung wutentbrannt, hat auch sie ihren Zorn nicht mehr unter Kontrolle. Ist jemand ängstlich, fühlt auch sie sich wie gelähmt.

Nicht nur deswegen hatte Alex eine schwere Kindheit. Der frühe Tod der Mutter trieb den Vater in Alkohol und Arbeitslosigkeit, woran die Familie schließlich zerbrechen sollte. Alex wuchs im Heim auf, ihr Bruder im Jugendknast. Nach vielen Jahren sollen sie sich jetzt das erste Mal wiedersehen: in Haven Springs, einer verschlafenen Kleinstadt, fernab aller Sorgen.

Vom ersten Moment an wirkt Haven Springs wie der Bilderbuch-Rückzugsort für geschundene Seelen: Die zahllosen bunten Farbtupfer in den Blumenkästen strahlen sofort die Freundlichkeit und Herzensgüte seiner Einwohner aus, und die Sonnenstrahlen, die durch die Wipfel der majestätischen Bäume brechen, scheinen jeden mit ihrer Sanftheit übers Gemüt streicheln zu wollen. Haven Springs ist das Postkartenidyll einer heilen Welt, in der jeder jeden kennt, füreinander da ist und die Einwohner einander nicht Nachbarn, sondern Familie sind. Sprich: der Inbegriff eines Ortes, über den man sagt, hier sei „die Welt noch in Ordnung“.

Damit ist Haven Springs wie geschaffen für den Neuanfang, den Alex sich erträumt. Doch das Glück währt nur für kurze Zeit. Denn ihr Bruder kommt bei einem Unfall ums Leben. Alex spürt jedoch, dass mehr dahintersteckt, ein skrupelloser Bergbaukonzern fahrlässig gehandelt und aus Profitgier den Verlust von Menschenleben billigend in Kauf genommen hat. Mithilfe ihrer Superkraft nimmt Alex die Ermittlungen auf ...

Like I blister in the Sun

Das emotionale Zentrum von Life is Strange: True Colors wird voll und ganz von seiner Heldin ausgefüllt: mitzuerleben, wie Alex zum ersten Mal in ihrem Leben Geborgenheit und Zusammenhalt erfährt, ihre seelischen Wunden zu heilen beginnen und sie darüber zusehends aufblüht, ihre Leidenschaft für Musik wiederentdeckt, Freundschaften schließt und sich möglicherweise gar verliebt, macht das Spiel zu einer grundsympathischen Erfahrung. Nicht nur dass Alex sich noch dazu äußerlich – im Gegensatz etwa zur innerlich recht ähnlichen Protagonistin Max aus dem ersten Teil – mit pausbäckigem Gesicht und leicht pummeliger Statur bewusst Schönheitsidealen verweigert, macht sie zu einer der interessantesten und wichtigsten Videospiel-Figuren seit Langem – wenngleich böse Zungen behaupten könnten, sie spiegele darin lediglich das Emo-Klischee der Zielgruppe des Spiels wider.

Man nimmt Alex die tiefe innere Zerrissenheit ab, in der sie sich befindet: jemand, der Vertrauen und Geborgenheit nie kennenlernen durfte, und sich deshalb zögerlich bis misstrauisch an einem Ort wiederfindet, der zu gut scheint, um wahr zu sein. Aber auch jemand, der Zeit seines Lebens allein die Bürde ihrer Fähigkeit schultern musste, ständig von den Gefühlen anderer überwältigt zu werden, bis die eigenen Emotionen nur noch schwer von den fremden zu unterscheiden sind, sie sich so sehr mit den Sorgen anderer auseinandersetzt, dass das eigene Wohlergehen auf der Strecke bleibt.

Wie schon in den Vorgängern findet die Geschichte immer dann zu ihren stärksten Momenten, wenn sie konventionelle Videospiel-Dramaturgien ignoriert und sich voll und ganz dem authentischen Erleben und alltäglichen Problemen zuwendet. Dass die Entwickler in diesem Bemühen den verhalten aufgenommenen Vorgänger in den Köpfen der Fans ungeschehen machen wollen, zeigt sich vor allem auch daran, wie sie True Colors als eine Art „Best of“ der beliebtesten Szenen der Reihe entwerfen: Die zauberhafte Hommage an klassische Pen-and-Paper-Rollenspiele, die in Before the Storm noch eine charmante Randnotiz einnahm und im Kurzspiel-Ableger Captain Spirit zur fantasievoll blühenden Reise in die eigene Kindheit einlud, wird diesmal auf die ausufernde Größe eines ganzen Kapitels ausgedehnt, in dem sich sämtliche Einwohner zur Aufheiterung eines traumatisierten Jungen als Trolle und Zauberer verkleiden und das gesamte Dorf zur Bühne für ein herrlich verspieltes Fantasy-Abenteuer wird. Nicht wenige Spieler dürften diese zu ihrer Lieblingsepisode erklären.

Die ergreifendste Szene ist dann auch nicht die rührselige Trauerfeier oder der Moment der großen Plot-Enthüllung, sondern die, in der Alex auf dem Frühlingsfest zu ihrer Version von Blister in the Sun von den Violent Femmes auf der Bühne abrockt: ein Moment, in dem die Zeit für einen Augenblick stillzustehen scheint, alle Probleme wie weggewischt wirken und sie sich fallen lässt in die Arme von Menschen, die sie aufzufangen bereit sind. Wie schon im ersten Teil nimmt die Musik einen großen Stellenwert in der Schaffung solcherlei Momente ein, vornehmlich aus dem Singer-/Songwriter-Umfeld. Hierfür wurden die australischen Indie-Musiker Angus & Julia Stone gewonnen, die zwölf Songs beisteuerten und damit ähnlich melancholische Töne anstimmen wie der Soundtrack von Syd Matters, der maßgeblich zum Legendenstatus des ersten Teils beitrug. Auch wenige lizenzierte Songs sind zu finden, wie Creep von Radiohead, die damit gewissermaßen die Hymne für alle Außenseiter und Missverstandene dieser Welt schufen.

Die Entwickler sind sich über den Stellenwert der Musik für den Erfolg der Serie offenbar genau bewusst und rücken sie darum auch inhaltlich noch stärker in den Fokus: wie Max aus dem ersten Teil greift auch Alex in melancholischen Momenten gerne zur Gitarre, und eine der zentralen Anlaufstellen des Spiels ist der Plattenladen am Ort. Freundin Steph, die auch schon in Before the Storm vom selben Entwickler Deck Nine eine Nebenrolle einnahm, legt dort fürs Lokalradio auf und hadert mit sich selbst, weil sie insgeheim von Auftritten als Musikerin auf den Bühnen der ganzen Welt träumt – und nicht bloß als Lückenfüller auf dem Dorffest zwischen Apfelwettessen und Tombola.

Es sind dieserlei persönliche Geschichten, die das Interesse an den Figuren von Life is Strange: True Colors stets aufrechterhalten. Denn auch die vordergründig heile Welt von Haven Springs weist bei näherer Betrachtung Risse in der Fassade auf: Die nette ältere Dame aus dem Blumenladen verheimlicht ihre Alzheimer-Erkrankung vor ihrer Tochter, die Besitzer der Eisdiele ringen um ihre finanzielle Existenz, und die Künstlerin zerbricht innerlich daran, dass sie für ihren Sohn nicht in dem Maße sorgen kann, wie es der Fall sein sollte. Ich rechne es den Entwickler hoch an, dass sie den kleinstädtischen Kosmos von True Colors um solcherlei persönliche Probleme arrangieren und nicht der Versuchung erliegen, Leichen in den Kellern auszubuddeln, wie es seit David Lynchs Blue Velvet zum Klischee spießbürgerlicher Vorgartenfassade geworden ist. (Dass sie es am Ende doch tun, wiegt dafür umso schwerer, aber dazu später.)

In dieses Geflecht menschlicher Beziehungen gliedern sich zum Großteil die Entscheidungen ein, die der Spieler im Verlauf trifft und die ein klein wenig anders strukturiert sind als in den Vorgängern. Viele davon sind rein optional, manche regelrecht versteckt, bewirken aber kleine hübsche Nebengeschichten: so etwa wenn ihr die Gedanken eines verschüchterten Pärchens auf dem Frühlingsfest lest und erfahrt, dass beide einander in der Friendzone des jeweils anderen wähnen und sich daher nicht trauen, den ersten Schritt zu tun, während sie heimlich natürlich total ineinander verschossen sind. In vielen solcher kleinen Szenen könnt ihr eingreifen, Amor oder Schicksal spielen und so das Leben der Dorfbewohner verändern. Auf die Geschichte nimmt dies zwar keinerlei Einfluss und bildet im Gesamtzusammenhang bestenfalls eine Fußnote, dennoch ergeben sich immer wieder hübsche Momente, wenn man in späteren Kapiteln von den Auswirkungen des eigenen Eingreifens erfährt.

Während Entscheidungen und Dialogoptionen generell deutlich seltener zu fällen sind als in den Vorgängern – nicht selten vergehen gar mehrere Minuten in Zwischensequenzen, bis ihr überhaupt wieder eine Aktion tätigen dürft –, wollten die Entwickler ihnen diesmal mehr Gewicht einräumen. Während der Ausgang der Geschichte in den Vorgängern lediglich von eurer Wahl in der letzten Szene abhing, münden die Ereignisse in True Colors laut Entwicklern in sechs unterschiedliche Enden, die von euren Entscheidungen das ganze Spiel über beeinflusst werden. Allzu viel sollte man sich davon allerdings nicht erwarten, da die unterschiedlichen Enden hauptsächlich Variationen im Ablauf darstellen, aber keine komplette Umdeutung erfahren.

Emotionen vom Reißbrett

Life is Strange: True Colors ist ein Spiel, das man vermutlich am besten einfach genießen sollte, ohne viel darüber nachzudenken, sich von seiner entschleunigten Erfahrung auffangen lassen, der melancholischen Musik lauschen und die Zeit mit den Figuren verbringen, die einem unweigerlich ans Herz wachsen. Denn je genauer man sich die Einzelteile betrachtet, umso mehr sind die Risse darin zu erkennen.

In seiner ersten Hälfte drückt Life is Strange: True Colors als Tragödie über einen Trauerfall mit aller Gewalt auf die Tränendrüse, dass es mitunter knirscht. Doch im Bemühen, Emotionen beim Spieler zu erzeugen, treten die Entwickler sie hauptsächlich verbal breit. „Ich bin so traurig“, sagt der kleine Junge nach der Beerdigung unmissverständlich wie die Figur in einer 60er-Jahre-Seifenoper, über deren Gemütslage die Hausfrau beim Bügeln auch ohne Blick auf den Fernseher stets umfassend informiert sein musste.

Dabei zeigen die Entwickler eigentlich ständig, dass sie es richtig gut können: Wie es ihnen immer wieder gelingt, Alex’ Innenleben allein durch ihre Mimik wiederzugeben, mit ausweichenden Blicken zur Seite oder einem verschüchterten Lächeln, zeugt von phänomenaler Videospiel-Erzählkunst. Doch Life is Strange ist ein Spiel, das seine Spieler manipulieren möchte – und geht dabei für meinen Geschmack zu eindeutig und offensichtlich vor: Bezeichnenderweise brechen die Charaktere in nimmermüder Regelmäßigkeit in Tränen aus, wo es doch zu den Bauernregeln des Drehbuchschreibens gehört, dass nicht die Protagonisten, sondern der Zuschauer zum Weinen gebracht werden sollte. Während es dem ersten Teil von Life is Strange auf bewundernswerte Weise gelang, seine Emotionen durch dezente Zwischentöne zu vermitteln, werden sie hier meist mit dem Megaphon verkündet.

So angenehm sympathisch ich die Welt von Haven Springs empfand, sie mir die für Videospiele seltene Gelegenheit bot, mich genau wie Protagonistin Alex darin geborgen und willkommen zu fühlen und ich dieses Angebot gerne annahm, so unwirklich und künstlich erscheint dieses Kleinstadtidyll nach einer Weile, wirkt es zunehmend wie seine eigene Parodie in der übertrieben idealisierten Verklärung spießiger Gartenzaun-Romantik. Die heile Welt von Haven Springs ist so heile, dass einem selbst das Wattebausch-Universum einer Rosamunde-Pilcher-Verfilmung im Vergleich dazu wie sozialer Realismus vorkommt.

Die schönsten Szenen des Spiels sind dann auch diejenigen, die sich dieser Illusion vollständig hingeben, die Handlung in den Pausemodus schalten, das Erzählen der Geschichte komplett aussetzen und vollständig für sich stehen: das drollige Live-Rollenspiel etwa, bei dem die ganze Stadt an einem Fantasy-Abenteuer mitwirkt, oder die Ausgelassenheit beim Musizieren auf dem Frühlingsfest. Gleichsam entlarvt sich in solchen Szenen aber auch die am Reißbrett entworfene Formelhaftigkeit des Spiels und dass mit dem Bestreben der Entwickler zum „Zurück zu den Wurzeln“ vor allem ein „mehr vom Gleichen“ gemeint ist, das in den Vorgängern schonmal funktioniert hat – und einfach nur um ein paar Nummern aufgebläht werden muss, bis es aus allen Nähten platzt. Mehr von etwas Gutem ist schließlich automatisch gleich besser.

True Colors fragmentiert auf diese Weise in ein Tropen-Potpourri des Life-is-Strange-Universums: ein besinnlicher Moment an der Gitarre, selbstreflektierende Gespräche im Sonnenuntergang und ein Bekenntnis zu einem diversen Geschlechterverständnis – der Rest ergibt sich wie von selbst. Bizarrerweise ähnelt True Colors in vielerlei Hinsicht dem ziemlich mäßigen Twin Mirror vom großen Schwesterstudio Dontnod: ein abgelegenes Bergdorf, ein Trauerfall, ein innerlich zerrissener Hauptcharakter, die Hauptstraße als zentraler Schauplatz, eine böse Verschwörung … True Colors bietet von diesen Versatzstücken die kunterbunte Flower-Power-Version.

Dass True Colors im letzten seiner insgesamt fünf Kapitel zu einer reinen Räuberpistole wie aus einem plumpem Groschenheftchen-Thriller über die skrupellosen Machenschaften böser Konzerne mutiert, steht dem allem in geradezu befremdlicher Weise entgegen. Abermals scheinen die Entwickler nicht darauf vertrauen zu wollen, dass glaubwürdige Menschen und ihre Gefühlswelten in der Lage sind, als dramaturgische Anker auszureichen, um eine Geschichte aufzuspannen. Wer jedenfalls die Serienkiller-Nebenhandlung im ersten Teil schon ein klein wenig peinlich fand, wird in True Colors irgendwann nur noch den Kopf schütteln.

Life is Strange: True Colors - Gameplay Demo

Die erste Gameplay-Demo zu Life is Strange: True Colors zeigt euch satte 13 Minuten aus dem Plattenladen.

Dabei sind hervorragende Ansätze vorhanden, die dem menschlichen Melodrama als Nährboden für ein vielschichtiges Finale hätten dienen können. Wie wirkt es sich langfristig auf Alex aus, wenn sie ständig fremden Gefühlen ausgesetzt ist, diese sogar absorbiert, um ihren Mitmenschen zu helfen und sie von negativen Gefühlen zu „heilen“? Verschwindet dadurch irgendwann ihre eigene Persönlichkeit, weil sie die eigenen Gefühle nicht mehr von denen anderer unterscheiden kann? Oder spielt sie sich zu einer Schicksalsgöttin auf, die Menschen ihren Willen aufzwingt und unter dem Vorwand guter Absichten die Privatsphäre anderer missachtet? True Colors stellt viele spannende und kluge Fragen, verliert sie aber auf halber Strecke aus dem Blick oder das Interesse daran, weil den Entwicklern selbst keine Antworten darauf eingefallen sind. Stattdessen widmen sie sich nur noch der letztlich enttäuschend trivialen Frage des „Whodunnit?“ nach dem Mörder.

Dass True Colors letztlich erfolgreich über solcherlei Punkte hinwegsehen lässt, ist nicht zuletzt einer scheinbaren Nebensächlichkeit geschuldet, die viel zu selten in Spieletests gewürdigt wird: nämlich einer exzellenten deutschen Vertonung, die stets den richtigen Ton trifft und die Charaktere glaubhaft zum Leben erweckt. Und dass ich seit einer Woche den Ohrwurm Blister in the Sun nicht mehr aus dem Kopf kriege und mich ständig dabei ertappe, wie ich gedanklich noch immer mit Alex in einer sternklaren Nacht auf dem Frühlingsfest tanze, zeugt letztlich symptomatisch davon, dass sich die Zeit mit ihr trotz aller Kritikpunkte auch bei mir einen festen Platz im Herzen erschlichen hat. Und das ist schließlich alles, was die Entwickler erreichen wollten.

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