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Test - Harmony: The Fall of Reverie : Test: Herrscherin im Multiversum möglicher Zukünfte

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Entwickler Don’t Nod machte sich vor allem mit den Spielen der Life-is-Strange-Reihe einen Namen. Sein neues Spiel Harmony: The Fall of Reverie folgt dessen Tradition, inszeniert sich aber ausnahmsweise nicht als interaktiver Film, sondern in Form einer Visual Novel mit statischen Charakterbildchen und redseligen Textfenster-Dialogen. Im Kern hält es aber die Markenzeichen des französischen Entwicklers aufrecht: eine emotionale Geschichte, die vor den Hintergrund phantastischer Ereignisse vor allem die persönlichen Tragödien und Schicksale authentischer Personen in den Mittelpunkt stellt, jede Menge Entscheidungen, die das Geschehen beeinflussen, und ein bunter Strauß gesellschaftlich relevanter Themen, die zwischen den Zeilen verhandelt werden. Doch spielerisch geht Harmony: The Fall of Reverie aufregende neue Wege.

Nach fünf Jahren im Ausland kehrt die junge Polly in ihre Heimat zurück: die Insel Atina, wo sie mit ihrer Mutter in einer Art Künstler- und Hippie-Kommune aufwuchs. Mittlerweile wird das Land von einen skrupellosen Konzern kontrolliert, der die Bürger ausbeutet und mit Drohnen rund um die Uhr überwacht. Und nun ist auch noch Pollys Mutter spurlos verschwunden, als sie die Machenschaften des Konzerns aufzudecken versuchte. Als sich Polly auf die Suche nach ihr begibt, wird sie plötzlich in eine phantastische Parallelwelt gesaugt: das titelgebende Reverie, das ebenfalls von einem großen Übel bedroht ist.

In seiner Ausgangssituation erinnert Harmony: The Fall of Reverie frappierend an den Adventure-Klassiker The Longest Journey bzw. dessen Nachfolger Dreamfall. Doch anders als dort ist Reverie kein riesiges Fantasy- oder Märchenreich, das bereist werden muss und mit Abenteuern lockt. Reverie ist viel eher eine Art Gedankenpalast des kollektiven Unterbewusstseins oder vorstellbar als eine Art Olymp, auf dem statt der Götter die verschiedenen Facetten der menschlichen Persönlichkeit leben, ähnlich wie die personifizierten Empfindungen im Pixar-Film Alles steht Kopf.

„Ruhm“ etwa residiert dort als schillernde, selbstverliebte Diva in einer goldenen Disco-Pyramide, „Chaos“ ist ein doppelzüngiger Dandy mit Hang zum Schabernack, „Macht“ ist ein bulliger Griesgram, und „Glückseligkeit“ tritt als quietschfideles Nerd-Girlie auf mit einer Leidenschaft für Videospiele und grellbunte Fan-Devotionalien.

Offenbar war Pollys Mutter vor ihrem Verschwinden auf der Suche nach den Ruinen einer untergegangenen Zivilisation gewesen, die einen Weg nach Reverie kannte. Doch weckte dies das Interesse des bösen Konzerns, der ebenfalls nach der göttlichen Macht der Parallelwelt strebt und dabei ihren schleichenden Untergang in Kauf nimmt. Nur Polly kann beide Welten retten und wieder ins Gleichgewicht bringen, verfügt sie als „Orakel“ doch als Einzige über die Fähigkeit, zwischen den Dimensionen zu reisen. Die meiste Zeit des Spiels verbringt ihr dennoch in der Realität, schart nach und nach eine Gemeinschaft aus Freunden und Weggefährten um euch, um Pollys Mutter zu finden und dem bösen Mono Konzern, so der wenig subtile Name des übermächtigen Kontrahenten, die Stirn zu bieten.

Die Götter von Reverie, die sogenannten „Bestrebungen“, fungieren dabei als eine Art Ratgeber, die sich regelmäßig aus dem Unterbewusstsein zu Wort melden und den Lauf der Geschichte in jeweils eigene Bahnen zu lenken versuchen: Während euch etwa „Seligkeit“ und „Bindung“ zu Friedfertigkeit und Gemeinschaftssinn ermutigen wollen, strebt „Macht“ nach der offenen Konfrontation mit dem Widersacher, und der Göttin der „Wahrheit“ wiederum ist in erster Linie am investigativen Aufdecken seiner geheimen Machenschaften gelegen.

Gameplay: ein Multiversum möglicher Zukünfte

In dieser Ambivalenz liegt bereits die erste Besonderheit von Harmony: The Fall of Reverie begründet. Denn im Gegensatz zu den bisherigen Spielen von Don’t Nod, in denen eure Entscheidungen lediglich unmerkliche Fluktuationen im Handlungsverlauf bewirkten, schlägt die Geschichte in ihrem neuen Spiel irgendwann völlig unterschiedliche Richtungen ein, je nachdem welcher Wesensart ihr den Vorzug gebt und welcher Gesinnung ihr folgt.

Zu Beginn macht sich das noch in lediglich nebensächlich scheinenden Kleinigkeiten bemerkbar, etwa wenn ihr entweder die Aussöhnung oder die Konfrontation mit der Mutter sucht, die euch jahrelang vernachlässigt hat. Doch zusehends laufen eure Entscheidungen auf weltverändernde Ereignisse hinaus, die irgendwann nicht mehr rückgängig zu machen sind: Ruft ihr das Volk zur gewaltsamen Revolution gegen die Unterdrücker auf? Oder geht ihr den Weg des friedlichen Protests, der am Ende aber womöglich nur wenig Aussicht auf Erfolg hat?

Darin besteht die größte Besonderheit von Harmony: The Fall of Reverie: Denn im Gegensatz zu allen anderen Spielen des Genres verstecken die Entwickler die Konsequenzen eures Handelns nicht als kausale Logik im Hintergrund, wo sie irgendwann unvorhergesehene Auswirkungen annehmen, sondern breiten sie stets offen und transparent als Spielmechanik vor euch aus.

Sämtliche Szenen des aktuellen Kapitels könnt ihr jederzeit in Form eines Graphen einsehen, mitsamt jeder möglicher Verzweigung und den Bedingungen, die dafür nötig sind. Meine anfängliche Befürchtung, das Spiel beraube sich auf diese Weise seiner erzählerischen Überraschungen und der Dramatik, wenn man im Vornherein schon weiß, worauf die Handlung hinausläuft, verkehrt sich erstaunlicherweise in ihr genaues Gegenteil.

Denn zum einen hält sich das Spiel bei seinen Andeutungen über zukünftige Konsequenzen vage genug, um die Neugier nicht zu ruinieren – im Gegenteil entsteht die Spannung oft dadurch, dass sich die Handlung auf halber Strecke in eine Richtung entwickelt, die man so nicht beabsichtigt hatte; zum Beispiel wenn man die gewaltfreie Lösung eines Konflikts anstrebt, aber dann feststellt, dass diese mit Opfern erkauft werden muss, die man nicht zu bringen gewillt ist.

Zum anderen und vor allem aber stellt einen das Spiel zunehmend vor „taktische“ Herausforderungen, das erwünschte Ergebnis herbeizuwirken. Es reicht nämlich nicht, lediglich eine Entscheidung für diese oder jene Handlungsverzweigung zu treffen. Für viele Situationen müsst ihr erst Punkte bei den verschiedenen „Bestrebungen“ sammeln, um bestimmte Entwicklungen freizuschalten, wodurch sich andere wiederum verschließen. Um zum Beispiel die zerstrittene Gemeinschaft eurer Freunde zu einer eingeschworenen Truppe zu vereinen, braucht ihr Punkte bei „Seligkeit“ und „Bindung“, habt dann aber in der Folge womöglich nicht die nötigen Punkte in „Macht“ und „Chaos“, damit sie auch schlagkräftig genug für die bevorstehende Aufgabe ist.

Ähnlich wie im narrativen Indie-Meisterwerk The Life and Suffering of Sir Brante artet der Spielverlauf zunehmend zu einem ständigen schmerzhaften Abwägen aus, weil ein gewünschtes Ergebnis stets mit schwerwiegenden Opfern erkauft werden muss: Wer etwa den Schlachtplan des einen Freundes favorisiert, stößt damit den anderen vor den Kopf und droht ihn langfristig womöglich gar zu verlieren. Wer immer nur Harmonie innerhalb der eigenen Gemeinschaft anstrebt, versäumt es auf Dauer, die unausgesprochenen Konflikte zu lösen. Gegen Ende des Spiels fühlt sich das fast schon nach einem Schach-Spiel an, weil zahlreiche Möglichkeiten mit unterschiedlichsten Konsequenzen gegeneinander abgewogen werden müssen, die alle mit allen in einem schier undurchdringlichen Netz untereinander verwoben sind. So als sei man Dr. Strange, der aus Millionen möglicher Zukünfte die eine picken muss, die er noch für akzeptabel erachtet.

Langatmige Geschichte voller banaler Esoterik-Weisheiten

Leider kann Don’t Nod den subtilen Nervenkitzel, den sie dadurch auf spielerischer Seite zu erzeugen wissen, auf der erzählerischen nicht einlösen. Die Kapitalismuskritik über einen despotischen Konzern fällt reichlich platt und hilflos aus und hat nicht mehr auszusagen als: wenn böse Konzerne böse Dinge tun, sind sie aber ganz mächtig böse. Das Märchen von der Parallelwelt, in dem die menschlichen Gesinnungen als Götter residieren und beratend in die Geschicke der Welt eingreifen, schließt lediglich naive Küchen-Psychologie mit esoterisch einfältigem Firlefanz kurz, ohne daraus eine vielschichtige metaphorische Ebene zu schaffen oder zumindest eine originelle Form des inneren Monologs, wie es in Disco Elysium der Fall war. Schlussendlich steckt hinter der Fantasy-Mär nicht mehr als eine aufgeblasen vorgetragene Variation der altbekannten Engelchen-und-Teufelchen-Situation.

Letzten Endes fällt Harmony: The Fall of Reverie dadurch über weite Strecken seiner acht Stunden Spielzeit reichlich langatmig, geschwätzig, banal und damit schlicht langweilig aus, wofür unter anderem auch die Präsentation in Form einer Visual Novel mitverantwortlich ist. Denn wo die bisherigen Spiele von Don’t Nod durch ihre geschickte filmische Inszenierung, emotional aufgeladene Montagesequenzen und subtile Dramaturgie durch Blicke und Gesten affektiv mitzureißen wussten, werden das Geschehen und die Befindlichkeiten von Harmony stets in redseligen Text-Blasen ausschweifend breitgetreten.

Harmony: The Fall of Reverie - Gameplay Trailer

Dontnod zeigt in diesem Trailer erstes Gameplay aus dem für Juni eingeplanten narrativen Titel Harmony: The Fall of Reverie.

Zwar fällt das Spiel für eine Visual Novel ungewöhnlich aufwändig produziert aus: So sind die Charakterbilder nicht statisch, sondern mit Einschränkung auch animiert, die Hintergründe wurden sämtlich in 3D-Grafik erstellt und lassen daher auch dezente Kamerafahrten durch die Schauplätze zu, sämtliche Dialoge wurden (englisch) vertont, und die Anime-Sequenzen zwischen den Kapiteln sind absolut vorzüglich gezeichnet.

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Doch gelingt es den Entwicklern damit nicht die Emotionalität zu erzeugen, für die ihre Spiele eigentlich berühmt sind. Bewegend gedachte Szenen wie zum Beispiel eine Trauerfeier für einen verstorbenen Freund erzeugen keinen Kloß im Hals, sondern erschöpfen sich in angestrengt ausgewalzten Sentimentalitäten, die sich nicht auf den Spieler übertragen wollen. Das liegt vor allem auch daran, dass sich das Spiel zwar ausgiebig Zeit nimmt, die Charaktere vorzustellen und ihnen scheinbar vielseitige Facetten zu verleihen, sie dabei aber hauptsächlich nur über Banalitäten wie ihre Frühstücksvorlieben oder schlicht die sexuelle Orientierung definiert, anstatt ihnen eine Persönlichkeit zuzugestehen, an der man sich emotional festhalten kann. Das führt zu dem ebenso kuriosen wie bedauerlichen Umstand, dass sich die Spannungskurve der Geschichte nicht zunehmend steigert und schlussendlich zum großen Finale aufbäumt, sondern die meiste Zeit nur vor sich hin plätschert und schließlich einfach nur irgendwo, aber quälend lang versickert.

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