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Test - Steve Jackson’s Sorcery! : Genial: Abenteuer-Spielbuch für die Generation von heute

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„Benutze Gummihuhn mit Seil.“ Für Schabernack wie diesen waren narrative Spiele lange Zeit bekannt - bei den einen geschätzt für genau solcherlei Humbug, bei den anderen eher berüchtigt. Nach Jahren des Stillstands im Adventure-Genre haben sich interaktive Erzählungen in letzter Zeit massiv gewandelt und weiterentwickelt – im Falle des bahnbrechenden Disco Elysium nicht zuletzt mithilfe eines tiefen Blicks in den Rückspiegel der Spielegeschichte bis in eine Ära, in der interaktive Geschichten gar noch analog konsumiert wurden: in Form von Abenteuerspiel-Büchern. Mit Steve Jackson’s Sorcery erscheint nun einer der Urahnen dieser Gattung als zeitgemäß aufbereitetes Videospiel für die Konsolen Playstation, Xbox und Switch.

Nach einer langen Blütezeit und anschließendem Niedergang im Genre des Point-n-Click-Adventures erfahren narrative Spiele in den letzten Jahren wieder einen massiven Aufwind in mannigfaltig ausdifferenzierter Form, vom filmartigen Blockbuster wie The Quarry über innovative Rollenspiel-Adventure-Hybride wie das kürzlich erschienene Vampire: The Masquerade – Swansong bis hin zu kühnen Indie-Erzählexperimenten wie What remains of Edith Finch, Outer Wilds, Return of the Obra Dinn, Telling Lies, Unpacking, Road 96 und vielen anderen.

Choose Your Own Adventure: Urahnen interaktiver Geschichten

Eine der aktuell bemerkenswertesten Bewegungen sucht ihr Heil für den Schritt in die Zukunft paradoxerweise weniger in neuen mutigen Innovationen, sondern in einem inspirativen Blick in die ferne Vergangenheit, bis zu den prähistorischen Anfangstagen interaktiver Erzählformen – bei den Choose-Your-Own-Adventure- oder Abenteuerspielbüchern.

Dass diese keineswegs die schlechtesten Einflüsse liefern, bezeugte spätestens der Indie-Meilenstein Disco Elysium, der dem geradezu antiken Spielprinzip mit seiner primär schriftlichen Erzählweise und den leidlich verzweigenden Handlungsverläufen einen modernen digitalen Unterbau verpasste und es so mit einem komplexen Rollenspiel-System sowie einer lebendig wirkenden Spielwelt nicht nur flott für die Gegenwart, sondern gar zum Role-Model für die Zukunft machte. Auch weniger bekannte Spiele wie das im Übrigen ganz vorzügliche The Life and Suffering of Sir Brante oder die höchst vergnüglichen Roguelike-Kurzgeschichten 80 Days und Overboard von Sorcery!-Entwickler Inkle schöpften maßgeblich Inspiration bei den Oldies der interaktiven Geschichtenerzähler, um daraus etwas ganz und gar Frisches, Neues und dabei höchst Modernes zu schaffen.

Sorcery! (das Ausrufezeichen gehört zum Namen) erschien in Buchform bereits 1982 und gilt damit als eines der ersten Abenteuerspielbücher überhaupt (die allerersten erschienen etwa Mitte der 70er Jahre). Vier Bände umfasst das Abenteuer im Fantasyreich Analand und gliedert sich übergeordnet ins Fighting-Fantasy-Universum von Steve Jackson und Ian Livingston ein, das insgesamt sage und schreibe 67 Bücher zählt (reine Romane und Regelbücher nicht mitgezählt) und weltweit etwa 15 Millionen Exemplare verkauft hat.

Die grundlegende Idee dahinter: das Versprechen einzulösen, das Bücher (speziell die großen Abenteuerromane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Die Schatzinsel oder Reise zum Mittelpunkt der Erde) schon immer ihrer Veranlagung nach in sich führten, aber nur der verträumten Einbildung nach zu leisten vermochten: sich selbst als Held der Geschichte zu fühlen. Jedes der frühen Abenteuerspielbücher enthielt daher in der einen oder anderen Formulierung auf dem Cover den Hinweis: „Ein Buch, in dem DU der Held bist!“ (fast immer mit Ausrufezeichen)

Diese Eigenschaft wiederum gehört zum grundlegenden Wesenszug von Videospielen. Folglich ist es kein Wunder, dass einige von Jacksons und Livingstons Büchern für die damaligen Heimcomputer wie den C64 und Amstrad-CPC adaptiert wurden, wobei aber wahrscheinlich allenfalls das deutlich später für PC und Playstation erschienene Deathtrap Dungeon noch dem einen oder anderen ein Begriff sein dürfte. Denn in digitaler Form offenbarten sich schnell die Defizite dieser Erzählform, die schon sehr bald durch die deutlich offener und freier strukturierten Text- und später Grafik-Adventures abgelöst wurden.

Dass Deathtrap Dungeon überhaupt erschien, lag neben der halbwegs vorhandenen Bekanntheit der Marke vermutlich vor allem auch daran, dass Ian Livingston selbst seinerzeit im Vorstand von Publisher Eidos saß und diesem in seiner Funktion maßgeblich zur Blütezeit mit Spielen wie Tomb Raider, Hitman und den frühen GTA-Teilen verhalf. Steve Jackson wiederum war einer der Mitgründer von Warhammer-Verlag Games Workshop. Kurzum: Neben ihrer Rolle als Spielbuch-Pioniere und -Verleger, für die sie heute in erster Linie bekannt sind, prägten die beiden die Games- und Nerd-Kultur ihrer Zeit auf höchst vielfältige Weise.

Unter dem Titel Steve Jackson’s Sorcery! (das Ausrufezeichen gehört zum Namen) erschien bereits 2013 eine an digitale Möglichkeiten angepasste und inhaltlich stark erweiterte Umsetzung für Smartphones, die genau wie die Buchvorlage auf vier Episoden verteilt war (wenngleich sie eine einzige zusammenhängende Geschichte erzählen). 2016 folgte die Version für PC. Nun, fast zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, kommt Sorcery (ich lass das verwirrende Ausrufezeichen ab jetzt weg) endlich auch für sämtliche aktuelle Konsolen Playstation, Xbox und Switch. Gerade noch rechtzeitig? Oder schon zu spät?

Sorcery bildete das Debüt des damals noch jungen britischen Entwicklerstudios Inkle, das sich in der Zwischenzeit einen exzellenten Ruf als interaktive Geschichtenerzähler erarbeiten konnte. In ihrem zweiten Spiel 80 Days, das eine faszinierende Steampunk-Variation von Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt schildert, bauten die Entwickler das Spielbuch-Konzept ihres Erstlings konsequent aus, indem der Spieler stets ein völlig neues Abenteuer erlebte, je nachdem welche Reiseroute er um den Globus wählte (bzw. welche davon sein Geldbeutel und Gesundheitszustand zuließen).

Das erst letztes Jahr erschienene Overboard! (schon wieder mit einem Ausrufezeichen im Namen) interpretierte die Erzählweise der Adventure-Bücher dann in kreativer Weise als Krimi-Roguelike, indem der Spieler immer wieder von vorne begann und neue Handlungspfade wählte, bis es ihm schließlich erfolgreich gelang, seine Spuren zu verwischen, um einen Mord auf einem Ozeandampfer zu vertuschen. Am bekanntesten in der Vita von Inkle dürfte zweifellos Heaven’s Vault sein, dessen vielschichtige Geschichte um eine untergegangene Kultur in einem Dieselpunk-Sonnensystem sich der Machart nach eher an klassischen Adventures orientiert, deren Point-n-Click-Puzzeleien aber durch eigenwillig geniale Rätsel ersetzt, in denen es gilt, eine antike Hieroglyphenschrift zu entziffern.

Zurück durch die Vergangenheit in die Zukunft

Die Konsolenumsetzung von Sorcery umfasst als „Complete Edition“ alle vier Teile der Smartphone-Version, die wie schon die vier Bände der Bücher nicht für sich allein stehen, sondern ein einziges großes, zusammenhängendes Abenteuer erzählen und dadurch auf die geradezu enorme Spieldauer von weit über 30 Stunden kommen. Die erste Episode stellt noch die mit Abstand kürzeste dar, ist verhältnismäßig linear aufgebaut und vermittelt noch den Eindruck einer vergnüglich simplen Heldenreise, in deren Verlauf der Protagonist von einer Gefahr in die nächste stolpert und unterwegs auf nützliche Helfer und heimtückische Betrüger trifft.

Sorcery entstammt auf angenehm leichtfüßige Weise offensichtlich einer Zeit, in der noch nicht jedes Fantasy-Universum dem Orks-und-Elfen-Vorbild nach Tolkien-Art nacheifert, sondern skurrile und einfallsreiche Fabelwesen entwirft, keine langatmige Hintergrundgeschichte aufbaut, die Jahrhunderte umspannt, sondern diese eher nebenbei einflicht, nicht durch vielschichtige Charaktere oder gar moralische Grauzonen nach inhaltlicher Tiefe strebt oder Spannung durch überraschende Wendungen erzeugt, sondern sich auf faszinierende Begegnungen und heldenhafte Situationen fokussiert. Eher Der Hobbit also und weniger Der Herr der Ringe. Die Vielschichtigkeit dieser Welt, ihrer Bewohner und des eigenen Helden erschließt sich vielmehr fast unmerklich, nicht durch ausufernde Erklärungen, sondern durchs reine Erleben und zieht aber dadurch bald in einen ganz besonderen Bann, der nicht mehr loslässt.

Schon die zweite Episode spannt eine riesige Stadt als offene Spielwelt vor euch auf und bietet eine erstaunliche Freiheit, sie zu erkunden. Im ersten Durchgang werdet ihr jedenfalls nur einen Bruchteil davon zu Gesicht bekommen und einen Großteil der vielen kleinen Geschichten und Abenteuer nicht erleben. Dies lösen die Entwickler allerdings höchst geschickt, indem sie die Stadt in einer Art Zeitschleife festhalten, die euch die Gelegenheit gibt, den Tag auf unterschiedliche Weise mehrfach hintereinander zu erleben, andere Wege zu beschreiten und alternative Entscheidungen zu treffen.

Die dritte Episode dann erweist sich sogar als nochmal größer und offener, indem sie nicht nur eine gigantische Spielwelt vor euch ausbreitet, die man heute wohl als Open World bezeichnen würde, sondern ihr diese, ähnlich wie im Klassiker Zelda: Ocarina of Time, gewissermaßen doppelt in zwei unterschiedlichen Zeitebenen bereist. Auf der Suche nach sieben Schlangen-Dämonen durchstreift ihr sie nicht nur in der Gegenwart, sondern auch viele Jahrhunderte in der Vergangenheit, in der die sengende Wüste noch ein üppiger Wald und das Dorf der Eingeborenen noch nicht von der Verderbnis des bösen Erzmagiers verwüstet war. Die vierte Episode führt euch schließlich hinein ins Herz der Finsternis der Zitadelle des Bösen und wartet nochmal mit einem ganz besonderen Twist auf, der … aber nein, das dürft ihr selber herausfinden.

Ein Spiel, das Ausrufezeichen setzt

Und warum das Ganze? Um eine gestohlene Krone wiederzufinden, die ihrem Träger grenzenlose Macht verheißt und in die falschen Hände geraten ist. Wie alles in Sorcery wirkt selbst die Ausgangssituation zunächst geradezu banal, entwickelt aber im Verlauf eine Tiefe und Vielschichtigkeit, die man ihr anfangs nicht zugetraut hätte. Denn angesichts aktueller Neuinterpretationen des Choose-Your-Own-Adventure-Prinzips wie Disco Elysium und Sir Brante, die es mit einer unerhört fantasievoll ausgestalteten Spielwelt und einem durchdachten Rollenspiel-System auf ein inhaltlich wie spielerisch völlig neues Niveau hoben, wirkt Sorcery als erkennbares Relikt der analogen Tradition auf den ersten Blick regelrecht altbacken und wirft die Frage auf, ob diese Portierung nicht ein paar Jährchen zu lange auf sich warten ließ.

Mitnichten! Hat man erstmal die ersten Schritte ins Abenteuer hinter sich gebracht, entfaltet sich schon bald ein zeitloser Spaß, der zwar durchaus, aber im besten Sinne als altmodisch gelten darf und mit so viel Liebe und Sachverstand fürs digitale Zeitalter aufbereitet wurde, dass dieses 40 Jahre alte Spiel mitunter durchdachter, spannender und moderner wirkt als manch aktuelles Rollenspiel, das sich häufig in austauschbaren Quests, erzählerischem Leerlauf und weitgehend irrelevanten Entscheidungen erschöpft. Nichts davon trifft auf Sorcery zu! (dafür ein Ausrufezeichen zur Belohnung)

Die Art und Weise, mit der Inkle sich diesem vermeintlich antiquierten Erzählgenre nähert, seinen Traditionen einerseits die Ehre erweist, ihnen aber andererseits mit modernen Mitteln neu begegnet, fällt absolut bemerkenswert aus und ließ vor über zehn Jahren schon deutlich das große Talent seiner Entwickler erkennen, das sie mit ihren späteren Spielen dann zur vollen Entfaltung bringen sollten – und ihnen hoffentlich irgendwann noch den großen Durchbruch bescheren wird!

Ihr bereist die Landkarte dieser Welt mit eurer Spielfigur wie ein Spielbrett und müsst gelegentlich den weiteren Weg eurer Reise wählen: Nehmt ihr die Abkürzung durch den dunklen Wald oder folgt ihr weiterhin der Straße? Stattet ihr der verlassenen Ruine am Wegesrand einen Besuch ab oder lieber nicht, weil ihr dort eine Falle wittert? Besucht ihr zunächst die Stände der Händler auf dem emsigen Marktplatz oder widmet ihr eure Aufmerksamkeit lieber dem Tumult der Trunkenbolde vor der Schänke daneben? Auf diese Art durchstreift ihr nach und nach die Fantasy-Lande mit ihren gefährlichen Banditenlagern und Kannibalendörfern, noch gefährlicheren Minen und Sümpfen, einer geschäftigen Großstadt voller diebischer Wegelagerer, einem Spuk-Friedhof und einer Kanalisation, in der es vor Ratten und Kobolden nur so wimmelt.

An jedem eurer „Wegpunkte“ entspinnt sich eine kleine Text-Episode, in deren Verlauf ihr zahlreiche Entscheidungen fällen müsst, die jeweils zu einem anderen Ausgang des Geschehens führen und nicht selten erst sehr viel spätere Ereignisse beeinflussen. Da findet ihr etwa in einer einsamen Waldhütte eine Hexe in einen Käfig gesperrt vor. Befreit ihr sie daraus in der Hoffnung, sie werde sich aus Dankbarkeit erkenntlich zeigen? Oder traut ihr der Situation nicht und plündert stattdessen nur schnell ihre Habseligkeiten, bevor ihr euch wieder aus dem Staub macht? An anderer Stelle droht ihr als Gefangener der Kannibalen im Kochtopf zu enden. Ergreift ihr die erste sich bietende Gelegenheit zur Flucht und geht dabei das Risiko ein verletzt oder wieder eingefangen zu werden? Oder schließt ihr einen Pakt mit ihnen, eure Freiheit mit der Rettung ihrer Prinzessin zu erkaufen?

Jene Episoden bilden wie gesagt meist nur kurze, in sich geschlossene Streckenabschnitte auf eurer Heldenreise und weniger Momente eines epischen Abenteuers. Gerade dadurch fallen sie aber höchst abwechslungsreich und amüsant aus und bestimmen dennoch maßgeblich den Fortlauf der weiteren Handlung, weil sie je nach euren Entscheidungen damit enden können, dass ihr entweder einen wertvollen Gegenstand oder eine wichtige Information erhaltet oder womöglich nur mit schweren Blessuren am Gesundheitszustand oder Verlust von Gold davonkommt. Egal, was passiert, es wird auf jeden Fall euer weiteres Abenteuer beeinflussen.

Durch diese stete Ungewissheit, welche Entscheidung wohl die „richtige“ sei (falls es eine solche überhaupt gibt) entwickelt Sorcery! (das Ausrufezeichen hat sich das Spiel mittlerweile redlich verdient) schon bald eine erstaunlich hohe, konstant anhaltende (An-)Spannung. Denn stets sind zahlreiche unterschiedliche Ausgänge der Situation denkbar, manche vorteilhaft, manche unerfreulich, andere regelrecht schmerzhaft: Rettet ihr etwa der Hexe im obigen Beispiel das Leben, belohnt sie euch mit einem extrem wertvollen magischen Gegenstand. Zieht ihr ihren Groll auf euch, müsst ihr nicht nur auf die Belohnung verzichten, sondern entkommt der Lage nur mit Müh und Not. Dass man nie genau weiß, welche Entscheidung welche Konsequenzen nach sich zieht, die Autoren zudem sehr geschickt darin vorgehen, den Spieler auf falsche Fährten zu locken, sich Freud und Leid aber immer ausreichend die Waage halten, macht den besonderen Genuss von Sorcery! aus.

Nachdem ich etwa einen alten Mann aus einem Baum befreit hatte, der mir zum Dank eine Hälfte eines Zauberspruchs aushändigte, traf ich Stunden später auf seine Frau, die mir für die frohe Kunde über die Rettung ihres Mannes die andere Hälfte überreichte. Die anschließende Möglichkeit, nach dem Mann auch noch das Bienennest im Baum zu inspizieren, schlug ich aus in der Befürchtung, die Bienen würden mich bestimmt empfindlich stechen – nur um später zu erfahren, dass ich dort das Bienenwachs gefunden hätte, dass für einen wertvollen Zauberspruch benötigt wird.

Sorcery! zieht dadurch schon bald in einen unwiderstehlichen Sog, weil jede Begegnung einen unerwarteten Verlauf nehmen und zukünftige beeinflussen kann. Durch diesen enorm hohen Variantenreichtum wird man in einem einzigen Spieldurchlauf allenfalls einen Bruchteil möglicher Geschichten erleben und von einer ständigen Neugierde beseelt, was wohl erlebt worden wäre, hätte man einen anderen Weg eingeschlagen oder eine andere Entscheidung getroffen.

Irgendwann wird die Anspannung geradezu unerträglich, weil nie ganz klar ist, ob man nicht etwas Wichtiges übersehen, ungünstige Entscheidungen getroffen hat oder mit einer ganz anderen Wahl vielleicht sogar einen Triumph bewirkt hätte. Da stets ein Verlust bei Gesundheit, Gold und Essensrationen auf dem Spiel steht, fühlt sich jede Niederlage sofort wie eine an und jeder Sieg wie ein Glücksgefühl. Genau auf dieser psychologischen Ebene erfüllt das Spiel vortrefflich seinen selbst gesteckten „DU bist der Held“-Anspruch: nicht indem man sich als solcher wähnt, sondern indem man mit ihm fiebert, seinen Schmerz spürt, seine Freuden teilt, seinen Verlust nachempfindet und seine Erfolge gemeinsam mit ihm feiert.

Be kind, rewind

Etwas falsch machen oder sich in unüberwindbare Sackgassen manövrieren kann man dennoch nicht. Das Balancing hält die Momente des Triumphs und des Verlusts in einem ausgewogenen Auf und Ab. Irgendwie geht es immer weiter, dann aber womöglich mit einem Ausgang, der an anderer Stelle hart erkämpft sein wird oder zu unliebsamem Handeln nötigt, etwa zu stehlen, wenn die Goldvorräte sich bedrohlich gen Ende neigen.

Wer ganz und gar unzufrieden mit seiner Wahl ist, gar stirbt oder einfach nur aus Neugier sehen möchte, was passiert wäre, hätte er oder sie sich anders entschieden, hat zudem jederzeit die Möglichkeit quasi im Buch „zurückzublättern“, also zu jedem beliebigen Ereignis zurückzuspulen und andere Entscheidungen zu treffen. Dies führt zwar mitunter dazu, dass man einfach so lange herumprobiert, bis das gewünschte Ergebnis eintrifft, was aber angesichts des gigantischen Umfangs und der Vielzahl an Geheimnissen nicht negativ ins Gewicht fällt, sondern im Gegenteil bisweilen durchaus anzuraten ist. Ein immerhin 76-seitiger Guide im Internet beginnt mit dem bezeichnenden Warnhinweis: „Dieses Spiel ist viel zu groß, um es jemals vollständig abzudecken. Keine Komplettlösung der Welt wird jemals alle Ereignisse und Möglichkeiten abbilden können“ – was eigentlich schon alles sagt. Trotz zahlreicher Handlungsverzweigungen und alternativer Lösungswege werden jedoch wohl die wenigsten Spieler Sorcery mehrfach durchspielen.

Jene sind so dermaßen filigran und vielfältig ausgearbeitet, dass ich mir in Unkenntnis der Buchvorlage kaum vorstellen kann, wie diese dort ausgesehen haben mögen. Sorcery wurde als Videospiel offenbar von Grund auf neu gedacht, inhaltlich massiv aufgewertet und konsequent auf zeitgemäße Anforderungen angepasst. Es profitiert unentwegt von seiner digitalen Präsentationsform, weil diese dem Spieler deutlich mehr Freiheiten beim Erkunden der Spielwelt und den Autoren viel mehr Variationen im Handlungsverlauf zugesteht und außerdem durch Nebensächlichkeiten wie ein Inventar für Gegenstände und Hinweise größeren Komfort bei der Verwaltung des Abenteuers gewährt. Immer wieder nimmt das Geschehen Bezug auf zurückliegende Ereignisse oder fächert sich in alternative Routen auf, wie sie in gedruckter, analoger Form nie im Leben möglich wären. Allenfalls die Steuerung fällt in manchen Aspekten umständlicher aus als nötig, vor allem beim Wirken der Zaubersprüche.

Ja, natürlich, ein Spiel, das Sorcery! heißt und das sogar mit einem Ausrufezeichen betont, enthält natürlich auch Dutzende von Zaubersprüchen, die oftmals zusätzliche und kreative Lösungswege anbieten, etwa wenn ihr euch einen Taschendieb mit einer herbei beschworenen Rauchbombe vom Hals haltet oder die Gedanken einer Ratte im Kerker lest. Um sie wirken zu können, müsst ihr aber oftmals erst die dafür nötigen magischen Artefakte finden, was wiederum einen der Kernanreize des Spiels ausmacht, die richtigen Entscheidungen zu treffen und die einzelnen Geschichten zu einem wünschenswerten Ausgang zu bringen. Doch zum Glück ist das Spiel extrem fair ausbalanciert und gibt euch stets mehrere Möglichkeiten, wenn ihr euch eine verbaut habt. Wer etwa von obiger Hexe im Käfig nicht den magischen Sand erhalten hat, muss weiterhin ohne den Zauberspruch auskommen, der Gegner im Boden versinken lässt – hat aber später im Kerker erneut die Gelegenheit dazu, welchen zu finden.

>> 13 Geheimtipps, die du gespielt haben musst <<

Stichwort Gegner: ja tatsächlich, sogar ein Kampfsystem gibt es, und auch dieses wirkt wie fast alles in diesem Spiel auf den ersten Blick geradezu banal, bockt aber dann doch irgendwie. Im Grunde geht es lediglich darum, stets einen stärkeren Schlag auszuführen als der Gegner. Geht dieser jedoch in Verteidigungsstellung, verpufft der gesamte Angriff und macht euch in der Folge verwundbar für Gegenangriffe, weil die Ausdauer mit jedem Schlag entsprechend sinkt. Der Kampfverlauf besteht daher aus einem ständigen Abwägen, Vorpreschen und Antäuschen, ohne dabei zu überreizen. Das Ergebnis ist dadurch zwar in erheblichem Maße von Zufall und Glück abhängig und wem es nicht gefällt, der wiederholt den Kampf einfach so lange, bis er zufrieden ist. Nichtsdestotrotz fühlt es sich pfiffig und kurzweilig an, genau wie das wiederkehrende Mini-Game: ein Würfelspiel, das bei uns in ähnlicher Form unter verschiedenen Namen wie Mäxchen, Meiern oder 21 bekannt ist und bei dem man dem Gegenspieler so lange eine höhere Augenzahl vorgaukeln muss, bis einer dem anderen nicht mehr glaubt.

Sorcery - Release-Date Trailer

Am 23. Juni 2022 erscheint Steve Jackson's Sorcery! nach fast zehn Jahren endlich auch auf Playstation, Xbox und Switch.

Ansonsten müsst ihr euch natürlich darüber im Klaren sein, dass ihr in Sorcery! viel lesen müsst – leider nur auf Englisch. Grafisch bietet Steve Jackson’s Sorcery! neben der hübsch gestalteten Landkarte der Spielwelt allenfalls gelegentliche Illustrationen, die direkt der Buchvorlage entnommen sind und mit ihren eigenwilligen Strichzeichnungen in Kupferstich-Optik zusätzliche Nostalgie versprühen. Die 80er, so scheint einem Sorcery! augenzwinkernd vor Augen führen zu wollen, waren schon ein höchst merkwürdig verschrobenes Jahrzehnt. Aber was für ein geiles! (Ausrufezeichen)

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