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Test - Unpacking : Zimmer aufräumen als Spiel – bekloppt aber genial

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Jeder, der das erste Mal von Unpacking hört, hält es vermutlich für einen Aprilscherz. Oder zumindest eine vollkommen bescheuerte Schnapsidee. Und jeder, der mir beim Spielen dabei über die Schulter schaute, ohne schonmal vorher davon gehört zu haben, hielt mich sofort für bekloppt. Oder die Entwickler. Oder uns beide. Doch hinter Unpacking verbirgt sich eine einzigartig beglückende Erfahrung, die es vom kruden Spiele-Experiment zum Indie-Überraschungshit werden ließ. Anlässlich seiner Veröffentlichung für PS4 und PS5 werfen wir einen Blick auf dieses ungewöhnliche Unikat von einem Spiel.

In Unpacking dreht sich alles ums Auspacken und fein säuberlich Aufräumen. Also um genau die Tätigkeit, die schon in der Kindheit als die verhassteste galt und auch im Erwachsenenalter wenig an Attraktivität hinzugewonnen hat. Wieso sollte man so etwas spielen wollen? Und noch viel mehr: Warum sollte so etwas auf einmal Spaß bereiten?

Nun, diesen Fragen widmen wir uns später. Halten wir vorläufig einfach fest, dass die Antworten darauf irgendwie „Ja“ lauten müssen. Unpacking wurde jedenfalls seit seinem Erscheinen im November 2021 für PC mit zahlreichen Preisen bedacht, darunter dem BAFTA Award als Spiel des Jahres, noch vor Mitbewerbern wie It Takes Two, Deathloop oder Metroid Dread. Auch für seine Story wurde es mehrfach prämiert, unter anderem bei den Australian Game Awards, dem Game Developers Choice Award und abermals bei den BAFTAs. Dabei werden sich selbst viele, die es schon gespielt haben, in diesem Moment womöglich fragen: „Hä? Welche Story denn?“ Es scheint also durchaus was dran zu sein an diesem … Ding von einem Spiel, und das auf sehr vielschichtiger und nicht sofort klar ersichtlicher Ebene.

Worum geht’s nun?

In Unpacking packt ihr Umzugskartons aus und verstaut deren Inhalt Stück für Stück an einem geeigneten Platz. Die Hose auf den Bügel im Kleiderschrank. Die Socken in die Schublade darunter. Das Poster an die Wand, die Topfpflanze in die Ecke und das Kuscheltier aufs Bett. Oder doch lieber auf die Kommode neben den Zauberwürfel?

Spielmechaniken, die man guten Gewissens als solche bezeichnen könnte, existieren nur wenige. Je mehr Utensilien und Krempel man ausgepackt hat, umso mehr neigt sich der zur Verfügung stehende Platz in der Wohnung dem Ende entgegen. Deshalb reiht man die Socken in der Schublade und die Schuhe im Flur am besten von Anfang akkurat in Reih und Glied und stapelt die Teller und Schüsseln im Küchenschrank möglichst platzsparend ineinander. Zudem dürfen Gegenstände nur dort platziert werden, wo es auch wirklich sinnvoll ist: Der Toaster gehört eben nicht in die Badewanne (wer ihn trotzdem dort platziert, bekommt aber eine ironisch zwinkernde Trophäe), sondern in die Küche in die Nähe einer Steckdose. Bücher stehen ihrer Bestimmung nach im Bücherregal (oder auf dem Nachttisch), Duschgel-Tuben in der Dusche, und Bilder hängen an der Wand. Oder verstauben unterm Bett.

Und an diesem Punkt beginnt bereits das erste kleine Fünkchen Genie von Unpacking durch die bizarr spröde Oberfläche zu funkeln. Denn sonderlich schwer oder kompliziert wird das zwar nie. Auch wenn man hin und wieder etwas rangieren und „Tetris spielen“ muss, wie es heutzutage auch in realen Umzügen etwa beim Beladen des Umzugswagens zum geflügelten Wort geworden ist, so findet sich schon irgendwie irgendwo immer ein Plätzchen, ohne die Herausforderung zum kniffligen Puzzlespiel werden zu lassen.

Zudem verhält sich das Spiel sehr nachsichtig mit seinen Vorgaben: Wer keinen ausgeprägten Ordnungssinn sein eigen nennt, muss die Schuhe nicht säuberlich aufgereiht im Schrank verstauen, sondern kann sie auch kreuz und quer darin verteilen. Hauptsache sie landen halbwegs an einem Ort, der nicht völlig verkehrt ist - was nebenbei gesagt wie ein Rorschachtest über den eigenen Hang zur Schlampigkeit funktioniert, denn während manch einer vermutlich selbst virtuell nicht zulassen können wird, dass die Bücher nicht der Größe oder Farbe nach im Regal geordnet stehen, schmiss ich sie irgendwann achtlos durch die ganze Wohnung. Am Ende gibt es nicht mal Punkte dafür, wenn man besonders ordentliche, elegante oder kreative Lösungen gefunden hat.

Als ich etwa mal der Meinung war, für die gerahmte Ehrenurkunde bei den Bundesjugendspielen sei mein Charakter nun aber wirklich allmählich zu alt, um sie noch immer an die Wand zu hängen, versuchte ich einfach probehalber, sie verächtlich unterm Bett zu entsorgen – und musste spontan applaudieren, als das Spiel dies tatsächlich erlaubte. In Unpacking ist sich alles selbst genug.

Eine Art digitales Yoga

In diesen Kleinigkeiten offenbart sich die volle Strahlkraft seiner Spielidee. Die Entwickler selbst bezeichnen ihr Spiel als „Zen-Game“, also ein Spiel, das nicht herausfordern und aufregen will, sondern entspannen soll und dem Ordnungssinn Befriedigung verschafft, wenn sich am Ende alles ineinanderfügt: die Bücher im Regal ordentlich aneinandergereiht wurden, die Unterhosen in der Schublade Spalier stehen und sich die letzte Umzugskiste mit einem Seufzen der Erleichterung in Luft auflöst. Doch ginge es nur darum, Unpacking wäre schnell mit der zur aktuell in Mode gekommenen, nichtssagenden Phrase einer „befriedigenden Erfahrung“ umschrieben und dadurch doch nur grob skizziert.

Denn wie bei einer Zwiebel bildet sie nur die Oberfläche für weitere Schichten, die sich nach und nach erst mit dem Abtragen der darüber befindlichen offenbaren. Unpacking ist ein Spiel, dass man vermutlich am besten erst mit einer gewissen Lebenserfahrung spielt, wenn man die verschiedenen Stationen, die darin abgebildet werden, aus eigenem Erleben nachvollziehen kann.

Unpacking zu spielen, ist wie das Blättern durch das Fotoalbum der eigenen Chronik. Es versinnbildlicht die Stationen eines ganzen Lebens durch die Momentaufnahmen während der Umzüge, die ja immer auch den Beginn eines neuen Lebensabschnitts und das Ende eines anderen bedeuten und dabei vor allem auch die eigenen Erinnerungen anrufen: das kunterbunt lebhafte Chaos im Kinderzimmer, die Beengtheit der Studenten-WG, die zu Einfallsreichtum beim Ausnutzen der spärlichen Verstauräume zwingt, der Ehrgeiz in der ersten richtigen Wohnung, alles von Anfang an perfekt einzurichten, gleichzeitig Erinnerungen loszulassen, denen man sich entwachsen glaubt, das Kopfschütteln über nutzlosen Krempel, der sich über die Jahre ansammelt, den man aber nicht übers Herz bringt wegzuwerfen.

Eine neuartige Form des Erzählens

Unpacking erzählt seine Geschichte, indem es die Leerstellen zwischen den „Leveln“ anhand der Schauplätze und der Gegenstände füllt, die in der Zwischenzeit hinzukommen oder verschwinden: dass sich zu den Souvenirs vom Eiffelturm und dem Turm von Pisa irgendwann ein Spielzeugmodell eines der markant roten Londoner Doppeldeckerbusse und eine holländische Windmühle gesellt, versinnbildlicht die gewonnene Lebenserfahrung, und dass in der Küche irgendwann nicht mehr nur Topf und Pfanne, sondern auch Mikrowelle, Reiskocher und Fritteuse nach einem Platz verlangen, veranschaulicht den gesteigerten Lebensstandard nach den Entbehrungen der Lehrjahre.

Das Schlüsselerlebnis zum Verständnis der höchst klugen, weil subtilen Erzählweise von Unpacking erfuhr ich denn auch mit einem Moment, den ich zunächst für einen Bug hielt: Als ich ein Foto wie gewohnt zu den anderen an die Pinnwand hängen wollte, zeigte mir das Spiel an, dass es dort am falschen Platz sei. Was mich zunächst irritierte, regte zum Nachdenken an. Auf besagtem Foto war, zwar reichlich unscharf, aber doch erkennbar, ein glückliches Pärchen zu sehen. Könnte es sein …? Ich verstaute das Foto probeweise in der untersten Schublade des Schreibtischs, und siehe da: Das Spiel akzeptierte meine Wahl. Auf einmal fügten sich sämtliche Hinweise, die mich vorher schon verunsicherten, aber eher nur unbewusst wahrgenommen wurden, zu einem schlüssigen Bild: Nach der ersten gemeinsamen Wohnung mit meinem Partner im Kapitel davor, war die Beziehung offenbar in die Brüche gegangen und mein Charakter, den man übrigens genau wie alle sämtlichen „Protagonisten“ des Spiels niemals zu Gesicht bekommt, war als frisch getrennter Single vorübergehend ins Hotel Mama zurückgekehrt.

Auf einmal war meine Aufmerksamkeit für scheinbare Nebensächlichkeiten aufs Äußerste geschärft. Schon vorher hatten die Kleider und BHs (und das kitschige Einhornposter im Kinderzimmer) unmissverständlich und doch subtil zu verstehen gegeben, dass ich in Unpacking offenbar eine Frau spiele. Doch auf einmal erzählte mir jeder ausgepackte Gegenstand nicht nur eine mögliche Episode aus dem Leben dieses Menschen, den ich abseits seiner Habseligkeiten nie kennen lerne, sondern auch über dessen Persönlichkeit, seinen kulturellen Hintergrund, seine Erlebnisse, Freuden und Leiden. Der Moment, in dem ich die geradezu genial verschlüsselten Hinweise verstand, welchen Beruf meine Heldin eigentlich ausübt, kam regelrecht einer Epiphanie gleich.

Ich möchte gar nicht mehr verraten, zum einen weil der Genuss beim Spielen daraus entsteht, all das selbst herauszufinden, zum anderen aber auch, weil es gar nicht so viel mehr zu verraten gibt. Zwei bis drei Stunden dauert Unpacking in etwa nur und füllt diese mit einer angenehm unspektakulären Erfahrung, die spielerisch unaufgeregt beglückt und erzählerisch bewusst Akzente vermeidet, also auch nicht mit überraschenden Wendungen oder tragischen Schicksalsschlägen schockiert, um künstlich Spannung zu erzeugen oder manipulativ Emotionen wachzurütteln.

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Unpacking ähnelt darin dem ähnlich alltäglich authentischen Walking-Simulator-Melodram Gone Home oder auch dem entzückenden Toem, das seine alltäglichen Geschichten ähnlich bescheiden und betont zurückhaltend im Dazwischen flüchtiger Augenblicke erzählt. Ebenfalls unerwähnt lasse ich eine weitere erzählerische Dimension, die Unpacking gegen Ende eröffnet und dadurch seinen Beitrag zu einer gesellschaftlich relevanten Diskussion leistet. Nicht unerwähnt bleiben darf hingegen die Einbindung des DualSense-Controllers auf der PS5, dessen haptisches Feedback nach meinem Empfinden zum ersten Mal überhaupt nicht bloß als letztlich doch meist eher nervendes Gimmick eingesetzt ist, sondern als regelmäßig verblüffende Erfahrung, weil es immer wieder glaubhaft den Eindruck vermittelt, den gerade abgelegten Gegenstand tatsächlich in der Hand gehalten zu haben.

Schlicht im Schacht

Sicherlich ist Unpacking nicht jedermanns Sache, und ob ich dafür 20 Euro ausgeben würde, hätte ich das Testmuster nicht umsonst vom Entwickler gestellt bekommen, bezweifle ich ehrlich gesagt. Auch ließe sich, eventuell auch im Hinblick auf einen Nachfolger oder Nachahmer, kleinlich darüber diskutieren, ob „da nicht mehr drin gewesen“ wäre. Denkbar wäre etwa ein alternativer Spielmodus, der das Spielkonzept stärker in Richtung eines Rätselspiels verschiebt, indem zum Beispiel der zur Verfügung stehende Platz beim Auspacken rarer ausfällt und daher wohlüberlegt ausgenutzt und geschickt optimiert werden muss, um alles unterzubringen.

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Auch hätte die Geschichte durch tragische Schicksalsschläge und überraschende Wendungen womöglich manch einen Spieler emotional stärker mitreißen können, den der authentisch unspektakuläre Verlauf der Handlung in dieser Form eher langweilt. Und darüber, dass die primitive Pixelgrafik so simplistisch daherkommt, dass man regelmäßig nicht so recht erkennt, welchen Gegenstand man da eigentlich gerade in der Hand hält, muss man ohnehin hinwegsehen. Doch all das wäre, als werfe man einem Marienkäfer vor, er sei kein Pfau, statt ihn einfach für seine schlichte Schönheit zu bewundern.

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